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Mut zum Kontrollverlust

„Gerade die junge Generation vergisst in den entwickelten Demokratien derzeit, was Freiheit bedeutet. Die Menschen sind zu Konsumenten von Demokratie geworden. Sie haben das System von Ihren Eltern geerbt. Sie mussten nie dafür kämpfen, kein Blut opfern für Redefreiheit. Deshalb können sie so schnell ihre Freiheiten für wirtschaftliche Vorteile, populistische Slogans oder die Illusion von Sicherheit eintauschen. Freiheit ist sehr fragil. Es ist naiv zu glauben, dass das liberale System einfach so auf Jahrhunderte bestehen bleibt. Wir stehen jeden Tag vor einer Wahl.“

Das schreibt uns Oleksandra Matwijtschuk ins gesellschaftliche Stammbuch, die 2022 für ihr Engagement in der Ukraine den Friedensnobelpreis erhalten hat.

Interessant an diesem Text ist, dass sie, die es erfahren und wissen muss, Sicherheit als Illusion entblößt.

Dieser Illusion folgen wir auf Parteitagen, Militäraufmärschen, aber auch mit Versicherungsverträgen, um das Leben „in den Griff zu bekommen“ – und doch erweist sie sich jedes Mal aus Neue als trügerischer Schein. Denn in der Tat ist die einzige Sicherheit (der wir durch all die illusionären Sicherheiten zu entkommen suchen und die uns alle wie nichts sonst verbindet) unser aller Tod.

Was Sie jetzt vielleicht (ganz tief unten im Keller Ihres Bewusstseins) spüren, ist Angst. 

Die hat eine Botschaft für uns bereit: jede Angst ist Angst vor Verlust – die Todesangst ebenso wie die Angst vor Kontrollverlust - die ist es, die uns unermüdlich „Strategien“ entwickeln lässt (die sich trotz ihres kontrollheischenden militärischen Namens nach einiger Zeit letztlich ebenso als Illusionen entpuppen). Aber auch die Angst vor dem Entzug von Liebe und Anerkennung, die Angst vor Beschämung sind Formen der einen Verlustangst, die uns in die Rechthaberei, die angebliche Sicherheit der Meinungsblase oder in den Größenwahn treiben.

Was Arno Gruen zu seinem Buch „Der Wahnsinn der Normalität“ bewogen hat – dass die Suche nach Machtausübung Folge von Anerkennungsver5lusten in der Kindheit ist - vermittelt der Kabarettist Aurel Mertz augenzwinkernd: „Es ist die größte Tragödie, dass es statistisch nicht möglich ist, dass jeder Mann mit krankem Ego ein Land regiert.“

Eine noch größere gesellschaftliche Tragödie ist es wohl, dass wir verlernt haben, zwischen Meinung, Bedürfnis und Haltung zu unterscheiden: „Es ist kalt“ ist eine Meinung, über die diskutiert werden kann – „Mir ist kalt“, eine Bedürfnisäußerung, über die sich Diskussion oder gar Zynismus verbietet. Da haben uns die „sozialen“ Medien zu asozialen Stümpern werden lassen –

- sowohl, was das Hinhören, als auch das Reden betrifft: wer seine Verletztheit aus den Zeiten der jüngst vergangenen, in vielen aber noch toxisch wirksamen Pandemiemanagements hinter Meinungen und Besserwissereien versteckt, wird seinen Schmerz nicht los. Vielmehr wird ihn der in den Hass treiben - und damit in die Arme neuer Rattenfänger…

Wie weise haben da Nelson Mandela, Desmond Tutu und der African Council, Mahatma Gandhi und Martin Luther King gehandelt: sie alle hatten den Mut, der entstandenen Bitterkeit ins Auge zu blicken und dazu eingeladen, zugefügte Verletzungen gemeinsam zu betrauern: nur das kann Frieden schaffen.

Verletzungen zu missachten ist – auf beiden Seiten - nicht nur respektlos, sondern in hohem Maße demokratiegefährdend, weil gärender Hass nur allzu oft in Ressentiments, Revanchismus und Autoritarismus mündet. Das gilt für das Elend von Nachbarschaftsstreitereien ebenso wie für das Elend ehemaliger und aktueller Kriegsgebiete, aber auch für Demokratien, deren innerer Sinn durch die Menschen nicht mehr wachgehalten wird: einander in einem vereinbarten Erlaubnisraum Freiheiten einzuräumen. 

Nur eine solche offene Kommunikationskultur vermag die verführerisch einfachen Kampfbegriffe des „Wir – oder die“ bzw. „Entweder-Oder“, die jede Diktatur beherrschen, in ein demokratisches „Sowohl als auch“ zu wandeln. Täglich aufs Neue, wie uns Oleksandra Matwijtschuk aus Kiew erinnert…

Denn wer heute Angst vor dem Verlust der demokratischen Freiheit hat, bedenke: es ist eine Angst VOR, die uns sagt, dass wir noch im Besitz dessen sind, was wir fürchten zu verlieren. Diese Angst VOR will Türöffner sein zur Dankbarkeit und zum wachen Blick, der auch auf die Kipppunkte hin zum Guten schaut, wie Roland Gnaiger die vielen lebendigen Bemühungen für eine lebenswerte Zukunft nennt. Bei ihnen angelangt, so meint er schelmisch, genüge nur ein kleiner Schubser…

Humor ist weise. Er weiß zu unterscheiden, zwischen dem was wesentlich, was wichtig und was wurscht ist: er schenkt also Klarsicht, wie Ernst Jandls Gedicht:

wir sind die menschen auf den wiesen

bald sind wir die menschen unter den wiesen

und werden wiesen, werden wald

das wird ein heiterer landaufenthalt

 

Humor kann auch unsere Illusionen entlarven wie jener Witz: Ein Dachdecker stürzt bei Bauarbeiten vom Dach eines Wolkenkratzers. Als er am Balkon der Wohnung im 10.Stockwerk vorbeifällt und dort eine Frau vor Schreck aufschreit, ruft er ihr zu: “Keine Sorge, bis jetzt ist alles gut gegangen…“.

Die Verdrängung des „Bis jetzt…“ und die Angst, was kommt:
sie beide sind immer VOR. 

 

Mut aber ist ZUM: zum Gespräch, zum erneuten Versuch, zur Nähe, zur Ungewissheit und damit zum Kontrollverlust. 

Zur Gegenwart, so wie sie ist.

Gerald Wohlgang Koller: Mut zur Gegenwart zum (Jahres-)wechsel 2023/24

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